Zeit und Stadt – eine vernachlässigte Beziehung
Mit dem Lockdown im Zuge der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 haben sich in vielen Ländern auch der Rhythmus der Städte, die zeitlichen Muster der Bewegung von Menschen und Gütern, die Arbeitszeiten etc. sehr kurzfristig massiv verändert. Von einem Tag auf den anderen gab es kaum noch Verkehr, kaum noch PassantInnen auf den Straßen, öffentliche Veranstaltungen waren völlig eingestellt. Die Menschen waren in der Mehrzahl zwangsweise zu Hause, der Bewegungsradius war je nach Schärfe der Regelungen in den einzelnen Ländern extrem eingeschränkt. Die Städte wurden plötzlich leise, Naturgeräusche waren wieder deutlicher zu hören, es schien, als wären die Städte in mehr als einem Sinn zur Ruhe gekommen.
Vor diesem Hintergrund (und der besonderen nachbarschaftlichen Solidarität in der Anfangszeit) wurde relativ viel über die Entschleunigung durch Corona und das positive Potential, das daraus erwachsen könnte, spekuliert. Auffallend ist jedenfalls, dass die Veränderungen durch den Lockdown in besonderer Weise als zeitliche wahrgenommen wurden. Das ist bemerkenswert, weil üblicherweise vor allem PlanerInnen die Stadt in ihren räumlichen Bezügen wahrnehmen, sich aber relativ selten Gedanken über die zeitlichen Dimensionen der Stadt machen. Schließlich ist es Kern der Profession, die Stadt räumlich zu gestalten. Hinzu kommt, dass wir den Raum mit unseren unterschiedlichen Sinnen wahrnehmen können, wir sehen ihn, wir können ihn akustisch abmessen und einschätzen und gegebenenfalls auch durch Gerüche einordnen – Themen, mit denen sich der sensory urbanism unter anderem auseinandersetzt. Für die Zeit fehlt uns der Sinn. Es entwickelten sich die unterschiedlichsten Zeitkonzeptionen und jede Disziplin, die sich mit Zeit beschäftigt, hat eine eigene Perspektive. Nicht umsonst ist die „Rätselhaftigkeit der Zeit“ ein immer wiederkehrendes Thema.
Mit Blick auf die Stadt und auf die räumlichen Bezüge erscheint es mir sinnvoll, folgende Konzepte heuristisch voneinander abzugrenzen:
• Historische Zeit und die Zeitlichkeit von Entwicklungsprozessen – in diesen Dimensionen werden die Geschichte von Städten, die Zyklen von Aufstieg und Niedergang, von Strukturwandel, von Lebenszyklen von Immobilien und Infrastrukturen, die Abfolge von Planungskonzeptionen, die Dauer von Planungsprozessen beschrieben („Raum in der Zeit“).
• Ereigniszeit, wahrgenommene Zeit – damit wird die Zeit gebunden an bestimmte Ereignisse (und nicht Maßeinheiten wie Jahre oder Stunden) beschrieben, werden Abläufe in ihrer Zyklizität erlebt (z.B. die Jahreszeiten). Darin deutet sich schon an, dass hier in besonderer Weise kulturelle und regionale (z.B. Breitengrade) Besonderheiten eine Rolle spielen („erlebte Zeit“).
• Zeitpraktiken – damit sind Verhaltensweisen von Personen oder Institutionen in der Zeit gemeint, wie sie die Zeit nutzen und wie dies den Raum beeinflusst – und wie umgekehrt die räumlichen Gegebenheiten das zeitliche Verhalten beeinflussen („Zeit im Raum“).
• Uhrzeit – als lineare, messbare Zeit ist sie die Grundlage der Koordination moderner Gesellschaften auf der Basis von Fahr- und Stundenplänen, Öffnungszeiten und aller anderen Formen zeitlicher Regeln („geregelte/koordinierte Zeit“).
Diese Perspektiven sind nicht ausschließend, nicht immer sauber voneinander abgegrenzt, sie überlagern sich und je nach Betrachtungsweise und Untersuchungsgegenstand sind unterschiedliche Konzepte mehr oder weniger geeignet. Eine Debatte über Zeit und Stadt (oder Raum) sollte daher immer die vielfältigen Bezüge im Blick haben.
Die Beschäftigung mit Zeit hat immer Konjunkturen erlebt, die mit Veränderungen der gesellschaftlichen Zeitstrukturen zusammenhängen. Eine intensivere Auseinandersetzung und ein „Kampf um Zeit“ (Rifkin 1988, der Titel der Originalausgabe lautet Time Wars) wird häufig vor allem durch zwei Faktoren ausgelöst:
• Technologische Umbrüche,
• Kulturelle Abgrenzung, wie sie etwa in der Abgrenzung der Wochenruhetage in den verschiedenen Weltreligionen zum Ausdruck kommt (Rinderspacher u.a. 1994).
Insbesondere durch die technologische Entwicklung (Mikroelektronik, Digitalisierung) befinden sich – zumindest die verstädterten Gesellschaften seit mittlerweile einigen Jahrzehnten in einem massiven Wandel der Zeitstrukturen – mit erheblichen räumlichen Implikationen. Das lässt sich allgemein ablesen an:
• einer wachsenden Zahl von wissenschaftlichen und populären Veröffentlichungen zum Thema Zeit, Zeitknappheit, Zeitmanagement etc. (u.a. Gründung der Zeitschrift „Time and Society“ 1992),
• einer Zunahme der Auseinandersetzungen über Zeit im Arbeitsleben (Gleitzeit in den 1970er Jahren, 35 Stunden Woche 1980er Jahre, Zeitausgleich statt Lohnausgleich, Sabbaticals, Care-Zeitbudgets, Optionszeiten in jüngster Vergangenheit),
• einer intensiveren Beschäftigung mit den Zusammenhängen von Zeit und Raum mit Beginn der Zeitgeographie in den frühen 1970er Jahren (z.B. Hägerstrand 1970), der italienischen und deutschen Raumzeitforschung (z. B. Mareggi 2012, Henckel u.a. 1989, Mückenberger 2004), den Forschungen über Rhythmus der Stadt (z.B. Lefebvre 2004, Neuhaus 2014),
• der insbesondere von Italien ausgehenden zeitpolitischen Diskussion (le donne cambiano i tempi – die Frauen verändern die Zeiten) (Mareggi 2012), die vor allem die zeitliche Restrukturierung städtischer Dienstleistungen und die Integration zeitlicher und räumlicher Planung zum Thema machte.
Die beobachtbaren Veränderungen der zeitlichen Strukturen der Gesellschaft lassen sich analytisch in drei unterschiedliche Dimensionen trennen, die nicht trennscharf voneinander sind, sich im Gegenteil teilweise wechselseitig bedingen. Trotz dieser Verknüpfungen lassen sich jeweils spezifische Aspekte herausdestillieren mit jeweils spezifischen Folgen für die räumliche Entwicklung.
Zeitliche Veränderungen und die Folgen für die Stadt
1. Beschleunigung –Verlangsamung
Die Beschleunigung des Lebens ist offenbar eine Grunderfahrung von Menschen zu vielen Zeiten gewesen: ein Barockgedicht spricht vom Leben als einer „Rennebahn“ und Goethe diagnostiziert die heraufdämmernde Moderne bereits als „veloziferisch“ (eine eigene Wortschöpfung aus velocitas (Schnelligkeit) und Luzifer). Insbesondere in Wettbewerbsgesellschaften sind Zeitvorteile Wettbewerbsvorteile, die einen dauerhaften Beschleunigungsdruck erzeugen. Das ist grundsätzlich und für einzelne Bereiche vielfach beschrieben worden (z.B. Backhaus/Bonus 1998, Rosa 2015). Für die Stadt sind u.a. folgende Aspekte der Beschleunigung von besonderer Bedeutung:
• Verkehr und Verkehrsnetze,
• Flächeninanspruchnahme, Standortwahl und Bauen,
• Arbeiten und tägliches Leben,
• Konsum.
Die Beschleunigung der Verkehrsmittel und der dafür erforderlichen Infrastruktur hat die Welt auf unterschiedlichen Maßstabsebenen kleiner gemacht – im Weltmaßstab die Globalisierung ermöglicht und vorangetrieben (was im Übrigen schon Karl Marx und Friedrich Engels im Kommunistischen Manifest beschrieben haben) und auf regionaler Ebene die Einzugsbereiche der Städte vergrößert und die Zersiedelung befeuert. Diese Schrumpfung des Raumes (space time compression) (Harvey 1990, Wegener/Spiekermann 2002) hat aber auch eine „Rückseite“, die man als eine Torsion des Raumes bezeichnen könnte, denn Räume, die nicht in die beschleunigten Infrastrukturen (Flughäfen, Schnellbahnsysteme, Autobahnen) eingebunden sind, rücken im Vergleich zu den angeschlossenen Räumen in zeitlich zumindest relativ größere Ferne. Beschleunigung ist also – auch auf räumlicher Ebene – ein widersprüchlicher Prozess, weil er ungleiche Verteilungswirkungen hat und mit (relativen) Verlangsamungen für bestimmte Gruppen und Räume verbunden ist.
Hohe Geschwindigkeiten von Verkehrsmitteln sind in der Regel mit höheren Flächenverbräuchen verbunden, weil die Nutzung mit steigenden Geschwindigkeiten immer ausschließlicher werden muss. Fahrräder und Straßenbahnen gehen noch in der Fußgängerzone, eine Schnellbahn braucht eigene Trassen und große Abstände und Großflughäfen haben häufig eine Flächeninanspruchnahme, die hohen Anteilen an der dazugehörigen Stadt entspricht.
Die beschleunigte technologische Entwicklung, der weltweite Wettbewerb tragen zu einer ebenfalls beobachtbaren beschleunigten Veränderung von Standortanforderungen und einer höheren Rate neuer Standortsuchen – zumindest in einigen Bereichen der Produktion und Dienstleistung – bei, so dass ein Gutachten von McKinsey schon in den 1990er Jahren von „Nomadenstandorten“ sprach. In Teilen sind damit schnellere Umschlagszyklen von Flächen, von Flächennutzungen, von Gebäuden und ihren Nutzungen verbunden (Bunzel/Henckel 2003). Auch hier gibt es wieder die verlangsamte „Rückseite“, wenn die Flächennutzungen zu spezialisiert waren oder die veränderten großräumigen Standortanforderungen sich verschoben haben und damit langdauernde Brachen entstehen lassen. Zu dieser verlangsamenden Rückseite gehören auch die wachsenden Anforderungen und Standards sowie die komplexer werdenden Planungs- und Genehmigungsverfahren, welche in nicht totalitären Gesellschaften häufig zu einer Verlangsamung der Umsetzung von Projekten führen.
Die technologische Entwicklung trägt insbesondere durch die beschleunigte (und kontinuierliche) Informationsverfügbarkeit und -weitergabe zu einer Beschleunigung der Arbeit bei, Arbeit wird verdichtet, Reaktionszeiten verkürzt oder durch Automatisierung ersetzt. Solche Beschleunigungen sind in vielen Bereichen zu beobachten – ein gegenwärtig besonders relevantes Beispiel ist die Verkürzung der Verweildauern in Krankenhäusern mit der Folge erheblicher Rationalisierungen und Standortschließungen, die einigen Ländern schon sehr viel weiter fortgeschritten sind als beispielsweise in Deutschland und in Zeiten der Pandemie in die Kritik geraten sind. Langsamkeit (in der Rationalisierung) kann unter solchen Umständen zu einem Vorteil werden.
Letztlich lässt sich der Beschleunigungsdruck auch im alltäglichen Verhalten im öffentlichen Raum beobachten – es wäre m.E. eine lohnende Überprüfung, ob die Geschwindigkeitsübertretungen und Rotlichtverstöße an Ampeln in den letzten Jahren zugenommen haben.
Der beschleunigte Konsum ist räumlich von erheblicher Bedeutung. Schon seit längerem ist eine Verkürzung von Lebenszyklen von Verkaufsformen im Einzelhandel zu beobachten, die immer wieder neue Standortanforderungen mit sich bringen, alte Standorte entwerten und zum Teil auch zu längerfristigen Leerständen – allerdings räumlich sehr ungleich verteilt – führen. Ein wesentlicher Treiber für Veränderungen ist in jüngster Zeit der Onlinehandel, der durch Corona einen neuen Schub erhalten hat. Der Onlinehandel hat die Auslieferungslogistik erheblich verändert und verändert sie weiter.
Corona und die kurzfristigen sowie bislang absehbaren Folgen sind gleichzeitig ein sehr gutes Beispiel für die Uneindeutigkeit von Beschleunigung und Verlangsamung. Selbst wenn man unterstellt, dass es ein Grundmuster von Beschleunigung gibt (Rosa 2015), sind gleichzeitig erhebliche Verlangsamungen zu beobachten. Damit ist auch verbunden, dass die positiven und negativen zeitlichen Folgen räumlich und sozial sehr ungleich verteilt sind, so dass Beschleunigungen häufig auch Fragen der Verteilung von Zeit und von Zeitgerechtigkeit (Henckel/Kramer 2019) aufwerfen. Um das an zwei konkreten Beispielen zu erläutern:
Der Anspruch des Onlinehandels ist es, die Auslieferung der Ware zum Kunden immer schneller zu bewerkstelligen; in einigen Regionen wird von Amazon eine Lieferung innerhalb weniger Stunden angestrebt oder gar garantiert. Die Rückseite dieser Beschleunigung durch den Onlinehandel ist die Zunahme des Lieferverkehrs durch kleine Lieferfahrzeuge. Auf diesen Ansturm sind die Städte nur schlecht vorbereitet, die wachsende Konkurrenz um Verkehrsfläche führt dazu, dass Lieferfahrzeuge immer häufiger in zweiter oder dritter Reihe parken und dadurch den Verkehrsfluss für völlig unbeteiligte Verkehrsteilnehmer erheblich behindern und Verzögerungen verursachen. Es erfolgt also eine Umverteilung von Zeit – Beschleunigungsgewinne für die einen auf Kosten von Verlangsamungen für andere.
Die Ambivalenz und Widersprüchlichkeit von Beschleunigung und Verlangsamung wurden auch im Lockdown im Frühjahr 2020 deutlich. Viele Funktionen in der Stadt, das öffentliche Leben, der Kultur- und Sportbetrieb sowie viele Betriebe wurden stillgelegt. Die Bevölkerung musste in großem Umfang zu Hause bleiben. Das wurde von vielen als eine große Entschleunigung (Geißler 2020) und als ein großes, wenn auch „vergiftetes Zeitgeschenk“ (Rinderspacher 2020) angesehen. Das ist allerdings nur ein Teil der Wirkungen, weil gleichzeitig eine extreme Beschleunigung erfolgte: Betriebe, Schulen Universitäten mussten extrem schnell auf Online-Betrieb umstellen, das Gesundheitswesen musste extrem schnell reagieren (Kapazitäten anpassen und umschichten, Notkrankenhäuser errichten, in Hotspots die Zeiten ausdehnen, die Forschung für die Analyse einer unbekannten Krankheit vorantreiben etc.), die politischen Akteure mussten unter unsicheren Bedingungen sehr schnell sehr weitreichende Entscheidungen treffen.
Aus meiner Sicht kann man die Pandemie in vielerlei Hinsicht als einen Beschleunigungstreibsatz ansehen. Sie hat latente Schwächen und Konflikte verschärft (z.B. Kaufhäuser und andere strukturschwache Bereiche der Wirtschaft) und sie hat gleichzeitig eine Durchsetzung der Digitalisierung in einer Geschwindigkeit vorangetrieben, die ohne sie kaum denkbar gewesen wäre. Eine Beschleunigung des Strukturwandels kann zu erheblichen räumlichen Veränderungen führen (Leerständen, Umnutzungen, völlig neuen Konzepten für die von Kaufhäusern dominierten Innenstädte). Im Zuge der Engpässe der Versorgung mit Masken, Medikamentenrohstoffen etc. im Rahmen der stark ausdifferenzierten internationalen Arbeitsteilung und funktionalen Spezialisierung wurde auch immer wieder darüber spekuliert, ob die Globalisierung an einen Wendepunkt gekommen sei und Rückverlagerungen von bestimmten Produktionen die Folge sein werden. Meines Erachtens ist das im Augenblick noch weitgehend Spekulation. Meine These ist, dass die Globalisierung weitergehen wird und nur in wenigen Teilbereichen eine Entdifferenzierung der Arbeitsteilung stattfinden wird – mit entsprechenden räumlichen Folgen.
2. Ausdehnung
Der Mensch ist ein tagaktiver Primat mit hohen Freiheitsgraden, gegen den eigenen Rhythmus zu leben. Die Geschichte der Zivilisation und der Verstädterung ist auch eine Geschichte der Eroberung der Stadtnacht. Eine zentrale Voraussetzung, größere Schritte in diese Richtung gehen zu können, war die Erfindung der künstlichen Beleuchtung und vor allem ihre Durchsetzung auf der Basis immer billigerer Techniken (erst Gas, dann Elektrizität). Murray Melbin hat die Kolonisierung der Nacht sehr anschaulich beschrieben (1987).
Mehrere Faktoren liegen der Kolonisierung der Nacht zugrunde:
• Komplexe Gesellschaften und Städte zumal funktionieren nur, wenn zentrale Funktionen rund um die Uhr bereitgestellt werden (Sicherheit und Ordnung: Feuerwehr, Gesundheitsleistungen und Polizei, technische Infrastruktur: Gas, Wasser, Strom, Verkehr).
• Aus ökonomischen Gründen ist es attraktiv, die Nacht zu nutzen, weil man Kapital länger auslasten kann, es weniger lange stillsteht, Kapital also durch Zeit substituiert wird und dadurch Ersparnisse und Wettbewerbsvorteile erzielt werden. Das ist ein wesentlicher Hintergrund für den Kampf um die Betriebs- und Arbeitszeiten. (Allerdings gibt es auch Produktionen, die aus technischen Gründen nicht unterbrochen werden können und daher rund um die Uhr laufen müssen.)
• Die Nacht und die Dunkelheit waren als der „andere Zeitraum“ immer attraktiv, für neue Erfahrungen – das nächtliche Vergnügen. Dieser Bereich steht gegenwärtig in einigen Bereichen der nachtbezogenen Stadtforschung besonders im Zentrum und firmiert unter dem m.E. zu eng gefassten Begriff der „Nighttime Economy“, der aber im Wesentlichen nur die nächtliche Vergnügungswirtschaft meint (obwohl die anderen Bereiche eben auch Nachtökonomie sind).
Der logische Endpunkt der Eroberung der (Stadt)Nacht ist die kontinuierliche Aktivität. „24/7“, also die Aktivität rund um die Uhr und rund um die Woche, ist weltweit zur Chiffre für die ungezügelte Ausdehnung (z.B. Crary 2013) oder zur Verheißung eines großen Fortschritts (z.B. Moore-Ede 1993) geworden. Viele Städte weltweit wetteifern, um als „24/7“-Städte zu gelten.
Allerdings deuten viele Indikatoren an, dass die „24/7“ viel weniger verbreitet ist, als es oft den Anschein hat. Trotz aller Ausdehnung schlafen in der Nacht immer noch mehr als 80 Prozent der Bevölkerung, selbst an der Aktivität von Servern lässt sich weltweit der Tag- Nachtzyklus verfolgen. Aus meiner Sicht sind wir weit von einer durchgehend aktiven Stadt entfernt, „24/7“ ist in mehreren Dimensionen hochgradig selektiv (Henckel 2018):
• Funktional: Nur bestimmte Bereiche müssen kontinuierlich aktiv sein (Sicherheit/Ordnung, Infrastruktur, bestimmte Produktionen), nur für bestimmte Bereiche lohnt sich die Ausdehnung ökonomisch (sofern sie rechtlich zugelassen ist) – und die gegenwärtig häufig im Fokus stehende nächtliche Vergnügungswirtschaft ist nur ein sehr kleines Segment wirtschaftlicher Aktivitäten.
• Räumlich: In der Regel sind die ausgedehnten/kontinuierlichen Funktionen konzentriert (bestimmte Gewerbegebiete, Infrastrukturgroßanlagen). Das gilt auch für die nächtliche Vergnügungswirtschaft. Da sie sich aber häufig in wohnnahen Bereichen konzentriert (zuweilen auch räumlich wandert oder sich ausdehnt), verursacht diese Form der zeitlichen Ausdehnung immer wieder heftige Konflikte, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Auch wenn diese Bereiche zunehmen, betreffen sie nur kleine Teilräume der Städte.
• Sozial: Nachtarbeit ist sehr viel stärker männlich und überdurchschnittlich durch geringere Qualifikationen sowie ein relativ hohes Maß an Prekarität u.a. gekennzeichnet. Auch die Konsumseite des Nachtlebens ist selektiv und eher durch jüngere Bevölkerungsgruppen geprägt.
• Zeitlich: Gerade mit Blick auf die Vergnügungswirtschaft wird deutlich, dass sich das Nachtleben in der Regel auf das Wochenende konzentriert und die Frequenzen unter der Woche sehr viel niedriger sind. Zusätzlich spielen Wetter und Jahreszeiten eine nach wie vor nicht unerhebliche Rolle.
Die Folgen von Corona sind kurzfristig in Ausdehnungen von (Betriebs- und Arbeits-)Zeiten u.a. in einigen „systemrelevanten“ Bereichen und in Bereichen, die sehr schnell eine nur unzureichend vorbereitete Umsetzung von Onlineformaten der Arbeit (z.B. Bildungswesen, Verwaltungen) umsetzen mussten und die mangelnde Vorbereitung und Erfahrung durch zusätzliche Arbeitszeiten kompensieren mussten.
Die Einschränkungen der Vergnügungswirtschaft, die weitgehende Einstellung des gesamten Freizeit- und Kulturbetriebes, hat zwar teilweise auch zu einer Verlagerung zu Onlineformaten geführt, aber vor allem in Deutschland mit seinen sehr vielen lockeren Regeln für das Verlassen der eigenen Wohnung zu einer deutlich intensivierten Inanspruchnahme des öffentlichen Raumes geführt (Plätze, Parks) – bis hin zu (illegalen) nächtlichen Partys. Das hat zwangsläufig die Rhythmen der Städte verändert, wurde aber dadurch erleichtert, dass sich die Pandemie bislang vor allem im Frühjahr und Sommer abspielte. Es wird abzuwarten sein, wie sich die kälteren und dunkleren Jahreszeiten auswirken oder welche Substitutionsstrategien entwickelt werden.
3. Flexibilisierung und Simultanisierung
Flexibilisierung meint technisch gesprochen die Entkopplung von Betriebs- und Arbeitszeit. Typisch für den Fordismus waren u.a. die Einheit von Betriebslauf- und Öffnungszeiten und Arbeitszeiten. Die Entkopplung erlaubt eine bessere Steuerung der betrieblichen Zeitanforderungen und/oder eine bessere Passung mit den Arbeitszeitwünschen der Beschäftigten. Die Folge von Flexibilisierung ist eine größere Diversität von Arbeitszeitdauern und -lagen.
Ausdehnung und Flexibilisierung verändern damit auch die Anforderungen an Infrastrukturen und viele Dienstleistungen. Schon mit der Einführung der Gleitzeit war beobachtbar, dass der Verkehr entzerrt wurde, so dass die Verkehrsspitzen sich abflachten und die Täler sich auffüllten, die Amplituden also abnahmen. Auch Dienstleistungen mussten sich auf Dauer anpassen, die Kindergartenzeiten veränderten sich, die Ladenschlusszeiten weichten immer weiter auf und viele andere personenbezogene Dienstleistungen dehnten ihre Angebotszeiten aus und/oder flexibilisierten sie. In der Summe ergeben sich daraus erhebliche Veränderungen der städtischen Rhythmen.
Es ist zu vermuten, dass auch Corona die Flexibilisierung vorangetrieben hat und weiter vorantreibt: Homeoffice und andere Formen des Arbeitens auf Distanz dürften dauerhaft zunehmen und damit die Arbeitsorganisationen in den Betrieben und in der Folge die Rhythmen der Stadt verändern.
Die technische Entwicklung erlaubt außerdem immer mehr eine Parallelisierung von Tätigkeiten (unabhängig von der Frage, ob das sinnvoll und effizient ist) und das Verschwimmen der Grenzen zwischen den Tätigkeiten: Telefonieren und den Computer bedienen, in Verkehrsmitteln arbeiten, aufs Smartphone schauen und durch die Stadt laufen (so dass einige Städte als Extremversion schon besondere Spuren auf Gegenwegen eingeführt haben für Personen, die während des Laufens die Technik nutzen).
Kommunale Zeitpolitik, zeitgerechte Stadt
Die implizite Grundthese des Textes ist, dass – jenseits des Gemeinplatzes, dass alles in Zeit und Raum stattfindet – die Rolle zeitlicher Strukturen und ihrer Veränderungen in der kommunalen Planung und Politik in der Regel vernachlässigt werden, weil diese vor allem einen räumlichen Fokus haben. Zwar ist deutlich geworden, dass durch eine Vielzahl von Entscheidungen auch zeitliche Strukturen beeinflusst werden, dass diese zeitlichen Implikationen aber selten explizit berücksichtigt werden oder gar ausdrücklich Gegenstand des Handelns sind.
Wenn man den Anspruch hat, die Lebensqualität in den Städten zu verbessern, führt allerdings kein Weg an einer expliziten Einbeziehung der zeitlichen Dimensionen vorbei. Wichtige Beiträge dafür sind Konzepte für eine Erweiterung des Wohlstandsbegriffs um Zeitwohlstand (Rinderspacher 2002, 2017) sowie Überlegungen, den Wohlfahrtsstaat um eine zweite Dimension – die „zeitliche Absicherung“ neben der materiellen – zu erweitern (Goodin u.a. 2008). Indizien für die wachsende Bedeutung der Zeit für die Wohlfahrt sind die Zunahme der Auseinandersetzungen um die Debatte über das Recht auf eigene Zeit, die in Entschließungen des Europarates Eingang gefunden haben (Council of Europe 2010). In diesen Zusammenhang gehören auch Debatten um Optionszeiten im Lebenslauf (Jurczyk/Mückenberger 2020) oder auch die Zeitgerechte Stadt (Henckel/Kramer 2019).
Das sind alles wichtige Schritte auf dem Weg zu einer expliziten kommunalen Zeit- oder Raumzeitpolitik, aber vorläufig kann trotz einiger Institutionalisierungen – vor allem in Italien, das lange Zeit als eine Art Rollenmodell angesehen wurde (Henckel u.a. 2013, Mareggi 2012, Mückenberger 2011) – von einer wirklichen Etablierung dieses Politikfeldes kaum gesprochen werden.
Schlussbemerkung
Insgesamt ist die Zeitforschung und gerade auch die stadtbezogene Zeitforschung dabei, sich zu etablieren und zu erweitern – auf unterschiedlichen räumlichen Ebenen, durch neue methodische Ansätze, durch neue konzeptionelle Überlegungen zur Fassung raumzeitlicher Einheiten, durch die Erweiterung empirischer Untersuchungen auf der Basis neu verfügbarer Daten (vgl. Henckel 2020). Das lässt hoffen, dass die Informationsgrundlagen für eine explizite städtische Zeitpolitik breiter werden, die Erfahrungen in verschiedenen Ländern und Städten sowie die Empfehlungen (u.a. des Europarates) für eine Integration der zeitlichen Dimension in die städtische Planung und Politik dazu beitragen werden, dieses Politikfeld nach und nach zu etablieren.
Aus der future.lab-Magazin-Augabe #14 Chronopoli(tic)s, 2020
Artikel von Dietrich Henckel
2004-2017 Professor für Stadt- und Regionalökonomie am Institut für Stadt- und Regionalplanung der TU Berlin. 1979-2004 Projektleiter am Deutschen Institut für Urbanistik Berlin. Themen vor allem: Strukturwandel und räumliche Entwicklung, Zeit und Stadt, Lichtverschmutzung, Sicherheit. Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik. Mitglied von RSA, ARL und DASL
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