Zeitreisen zwischen glatt und gekerbt
Ein Ausflug nach Chronopolis mit Deleuze und Guattari
„Time unfolded at its usual sluggish, half-confused pace. They lived in a ramshackle house in one of the amorphous suburbs, a zone of endless afternoons.“ (Ballard 1960)
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Inmitten einer Peripherie, in der neben den räumlichen auch die zeitlichen Bezüge zerfließen, lebt Conrad, Hauptfigur in J. G. Ballards Kurzgeschichte „Chronopolis“. In der dünn besiedelten Agglomeration aus baufälligen Hausresten herrscht ein unausgesprochenes Verbot von Uhren. Alles, was in den Suburbs von privaten und öffentlichen Zeitmessgeräten übrig ist, sind zeigerlose Ziffernblätter. Schnell wird deutlich dass der von Ballard als zeitloses Dasein geschilderte Zustand kein Zwischenstadium einer kontinuierlichen Echtwicklung sein kann, sondern das Ergebnis eines Umbruchs ist. Die revolutionären Kräfte der Vergangenheit sind aber nicht nur verantwortlich für das Fehlen eines universellen Referenzsystems der Zeit, sie haben auch die Stadt selbst in ihrer räumlichen Struktur gänzlich umgestülpt. Wenn wir Ballard gedanklich folgen, dann besteht ein inhärenter Zusammenhang zwischen der zeitlichen und der räumlichen Logik städtischer Agglomerationen. Eine These die Lewis Mumford bereits in Technics and Civilization andeutet. Nicht die Dampfmaschine, sondern die Uhr sei die Schlüsseltechnologie der Industrialisierung gewesen (vgl. Mumford 1934) und in weiterer Folge vermutlich auch Grundlage für die urbanen Entwicklungen der Moderne, an dessen rationalen Ordnungen sich Ballard offensichtlich abarbeitet.
Eine Zone endloser Nachmittage
Wann es an der Zeit ist zu frühstücken, in die Arbeit zu gehen oder wie lange die Schulstunde dauert, wird über programmierte displaylose Timer geregelt. Außerhalb dieser von unsichtbarer Hand vordefinierten Taktung fehlt jeglicher technisch moderierte Zeitbezug. Jede Form der Koordination von Abläufen und Tätigkeiten scheint unmöglich. Ein Treffen beruht nicht auf der Festlegung eines konkreten Zeitpunktes, sondern auf der vagen Vermutung des Moments, an dem der oder die andere erscheinen wird.
Das Zentrum der Stadt ist durch die nicht näher beschriebene Revolution seit mehr als einem halben Jahrhundert verlassen. Die stark zurückgegangene Bevölkerung lebt in den entlegenen Außenbezirken von Downtown Chronopolis, in einer ringförmigen Zone endloser Nachmittage, am Übergang in die offene Landschaft sich auflösender Zeithorizonte.
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Hier entwickelt der junge Conrad bereits früh eine tiefe Faszination für die augenscheinlich verbotenen Zeitmessgeräte. Durch Zufall gelangt der Schüler während eines Kinobesuchs in den Besitz einer noch funktionierenden Armbanduhr, die es ihm fortan ermöglicht, Tagesabläufe akribisch zu strukturieren und sich ein Wissen darüber anzueignen, wie lange die im voraus getakteten Zeitintervalle dauern. Während Conrad mit seiner nicht zu bremsenden Leidenschaft für die versunkene Kultur der Uhren gleichsam Pate für eine überholte Gesellschaftsordnung steht, repräsentiert sein Lehrer Stacey das nachrevolutionäre Antizeitregime. Zwischen den beiden entwickelt sich eine sanfte Polemik über die potentielle Gefahr, die von Uhren ausgehen kann und Conrad beginnt zu ahnen wie etwas scheinbar so stetiges wie die Zeitlichkeit des Alltäglichen in der Vergangenheit turbulente Veränderungen durchlebt hat.
Conrad: „It‘s against the law to have a gun because you might shoot someone. But how can you hurt anybody with a clock?“
Stacey: „Isn‘t it obvious? You can time him, know exactly how long it takes him to do something.“
Conrad: „Well?“
Stacey: „Then you can make him do it faster.“
Besetzte Zeit-Räume
Die Zone endloser Nachmittage, in der sich Conrad auch vor seinem Uhrenfund bereits mit eigens entwickelten Zeitmessgeräten zu organisieren versucht, erinnert an jene Art von Raum, die Gilles Deleuze und Felix Guattari als „glatt“ beschreiben. Der glatte Raum ist direktional – nicht dimensional oder metrisch – und besitzt so eine vergleichbare Beschaffenheit: „Organloser Körper statt Organismus und Organisation. Die Wahrnehmung besteht hier eher aus Symptomen und Einschätzungen als aus Maßeinheiten und Besitztümern.“ (Deleuze/Guattari 1992: 663) Das Wesen des Glatten besitzt eine Dynamik der Strukturlosigkeit, welche in Ballards Narrativ bereits deutlich zu erkennen ist. Mit dem Unterschied, dass sich hier in der Zeit kundtut, was Deleuze und Guattari schließlich im Raum erkennen. Moment und Dauer sind das Äquivalent zu Punkt und Linie.
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Die gedankliche Übersetzung dieser Raumtheorie in eine Zeittheorie scheint auch deswegen nicht abwegig, da sie hier ihren Ursprung hat. Pierre Boulez hat im Bereich der Musik den Begriff des Glatten geschaffen, in Relation zu dessen Gegenbegriff, dem Gekerbten: „Im Prinzip sagt Boulez, daß man in einem glatten Zeit-Raum besetzt ohne zu zählen, während man in einem gekerbten Zeit-Raum zählt um zu besetzen.“ (ebd.: 661) Was zunächst als einfache Gegenüberstellung dargestellt wird, ist jedoch als komplexere wechselseitige Beziehung zu verstehen. Die Existenz der Gegensätze beruht auf ständigen Vermischungen, Überführungen und Rückwandlungen. Diese Wechselwirkungen sind auch bei Ballard erkennbar. Die vagen Zeiträume der Ringstadt sind Resultat einer Umwälzung der vorrevolutionären gekerbten Gegenwart, und gleichzeitig existieren auch in der Temporalität des Glatten Akteure wie Conrad, die zählen um zu besetzen.
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Einen wichtigen Wendepunkt in Ballards Fiktion markiert das Ende einer Schulstunde, in der Stacey seinem Schüler auf die Schliche kommt und dessen Uhr entdeckt. Um den jungen Querdenker über das Gefahrenpotential einer ausufernden Taktung mittels Zeitmessung zu überzeugen, nimmt er ihn mit auf einen Roadtrip ins entleerte Zentrum der Stadt, der gleichzeitig eine Zeitreise in die Vergangenheit darstellt, ein Ausflug in die ehemals gekerbte Zeitstadt Chronopolis.
Ein Zentrum synchronisierter Aktivitäten
Chronopolis war die letzte Entwicklungsstufe eines wachsenden post-industriellen Ballungsraums. Um die auf Dienstleistung ausgerichtete zentrale Zone kreisten die klassischen Symptome der Überdichte: Bodenknappheit, Verdrängung der Wohnnutzung, Überlastung der Verkehrs- und Kommunikationsnetze zu den Stoßzeiten der sich scheinbar endlos steigernden Personen- und Informationsflüsse. Um den komplexen Organismus der Stadt am Laufen zu halten, sind drastische Maßnahmen notwendig gewesen und diese basierten auf einem entscheidenden Faktor. Im Zentrum der entleerten Stadt angekommen, deutet Stacey auf die riesige Turmuhr, deren Zeiger seit der Revolution auf 12:01 stehen: „Time! Only by synchronizing every activity, every footstep forward or backward, every meal, bus halt, and telephone call, could the organism support itself.“
Die Überlastung der urbanen Infrastruktur führte, so Ballards Narrativ, zu einer zeitbasierten Reorganisation von Alltagsabläufen. Anfangs wurden Arbeitszeiten gestaffelt, um das Verkehrsaufkommen besser zu verteilen. Bahnkarten und Autokennzeichen in der entsprechenden Farbe ließen erkennen, welchem Zeitfenster jede/r Einzelne zugeteilt war. Die Maßnahmen wurden aber schon sehr bald auch auf zusätzliche Bereiche erweitert: es wurden Uhrzeiten zum Einschalten der Waschmaschinen bestimmt und reguliert, wer wann einen Brief abgeben oder ein Bad nehmen durfte. Jede zentral verwaltete Ressource wurde über eine zeitliche Regulierung portioniert und neu verteilt, mit dem Effekt, dass die Zeit selbst zur zentral verwalteten Ressource wurde.
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Verknappung wird in letzter Konsequenz über die zeitpolitische Planung reguliert. In Chronopolis wird allerdings auch der Raum zur knappen Ressource. Sämtliche öffentliche Flächen der Stadt wurden in ihrer Nutzung zeitlich durchprogrammiert, um die Dichte – in einer Art Druckausgleich gegen die drohende Überlastung – zu verlagern. Die Entscheidung über den richtigen Moment wurde dem Individuum abgenommen, zugunsten einer alle Lebensbereiche durchziehenden Planung von Abläufen, einer zentralen Taktung der gesamten Stadtbevölkerung. Ein Anzeigesystem aus gefärbten Ampeln und Uhrzeigern ordnete die klassenspezifisch zugeschriebenen Nutzungsperioden der Gehsteige, Straßen und Plätze.
Conrad: „But how did they enforce all this?“
Stacey: „By a sytem of colored passes, colored money, an elaborate set of schedules published every day like TV or radio programs. And, of course, by all the thousands of clocks you can see around you here. The subsidiary hands marked out the number of minutes remaining in any activity period for people in the clock’s color category.“
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Ballard beschreibt Chronopolis sowohl räumlich als auch politisch als ein zentralistisches System. Die Central Time Control war die alleinige Steuerungsinstitution und bündelte die gesetzgebende Gewalt an die Logik einer Rationierung der öffentlichen Infrastruktur der Stadt über die Zeit. „... a sort of Ministry of Time, gradually took over the old parliamentary buildings as their legislative functions diminished. The programmers were, effectively, the city’s absolute rulers.“ Die Verwaltung der Stadt, in der alle Handlungen auf der technischen Berechnung von Stundenplänen basieren, entwickelt sich so zu einer zeitgesteuerten Technokratie.
Stacey: „The full sum of your existence was printed for you in the newspaper columns, mailed to you once a month from the Ministry of Time.“
„Man braucht keine Science-Fiction, ...
... um sich einen Kontrollmechanismus vorzustellen, der in jedem Moment die Position eines Elements in einem offenen Milieu angibt,“ so Deleuze (1993: 261) in einem Artikel fürs L’autre journal und beschreibt eine durchaus ballardianisch anmutende Stadtvorstellung seines Schreib- und Denkgefährten Guattari, „in der jeder seine Wohnung, seine Straße, sein Viertel dank seiner elektronischen (dividuellen) Karte verlassen kann, durch die diese oder jene Schranke sich öffnet; aber die Karte könnte auch an einem bestimmten Tag oder für bestimmte Stunden ungültig sein; was zählt, ist nicht die Barriere, sondern der Computer, der die – erlaubte oder unerlaubte – Position jedes einzelnen erfaßt und eine universelle Modulation durchführt.“ Parallelen zwischen Guattaris vom Computer berechneter Stadtsteuerung und Ballards Chronokratie scheinen naheliegend, wenn auch mit einer entscheidenden Differenzierung.
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Mit Chronopolis hat Ballard ein städtisches Organisationssystem entworfen, welches bereits eindeutige Merkmale der später von Michel Foucault erörterten Disziplinargesellschaften aufweist. Foucault definiert diese in seiner genealogischen Analyse als Serien klar voneinander abgegrenzter Einschließungsmilieus (Schule, Kaserne, Fabrik, Klinik, Gefängnis), welche parallel mit der gleichen Logik der Disziplin operieren: die Herstellung geordneter Vielheiten aus den unübersichtlichen, unnützen und gefährlichen Mengen gilt als erste Bedingung um schließlich die geordneten Körper und deren Tätigkeiten zu konzentrieren, im Raum zu verteilen und in der Zeit anzuordnen (vgl. Foucault 1977: 190f). Chronopolis kann als vom Gebäude zur Stadt hochskaliertes Einschließungsmilieu interpretiert werden, bei dem die Disziplinartaktik vorrangig über die zeitliche Reglementierung von Abläufen ihre Wirkung entfaltet. Der Alltag der Chronopolianer*innen ist zersplittert und in seine Elemente zerlegt; jeder Tätigkeit ist eine zeitliche Verortung und eine Dauer zugeordnet; die Aneinanderreihung von Handlungen ist in ihrer Abfolge vorgeschrieben. Die Chronometrisierung der gesamten Stadt kommt dem gleich, was als Verkerbung der Zeit gesehen werden kann.
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Zufällige Momente der Überlagerung werden verunmöglicht. Jede offene Lücke zur Entfaltung individueller Zeitpraktiken wird geschlossen. Die zeitliche Ordnung in Ballards Fiktion nimmt wie die foucaultschen Einschließungsmilieus eine feste Form an. In der Veränderung dieser Grundbeschaffenheit der Disziplin sieht Deleuze schließlich das Aufkommen neuer Kräfte. Nachdem die Disziplinartechniken zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt finden, durchlaufen sie in der Nachkriegszeit eine bedeutsame Krise: „Eine Reform nach der anderen wird von den Ministern für notwendig erklärt: Schulreform, Industriereform, Krankenhausreform, Armeereform, Gefängnisreform. (…) Die Kontrollgesellschaften sind dabei die Disziplinargesellschaften abzulösen.“ (Deleuze 1993: 254)
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Im Unterschied zu den geschlossenen Milieus der Disziplin, so Deleuze, sind die verschiedenen Kontrollmechanismen keine
unabhängigen Variablen, sondern agieren miteinander als untrennbare Variationen. Sie bilden ein offenes Milieu und somit die Möglichkeit der ständigen Veränderung und der universellen Modulation. In diesem Punkt unterscheidet sich schließlich die Logik der Central Time Control in Chronopolis von Guattaris computergesteuerter Stadt und somit lässt sich aus heutiger Perspektive ein Anachronismus in Ballards Fiktion erkennen: während der Autor die städtischen Symptome der Verdichtung und Überlastung nach vorne projiziert, bleibt die Natur der zeitgebenden Kräfte als Disziplinierungsmaßnahmen in der Mitte des 20. Jahrhunderts verhaftet. Die Mittel der zeitlichen Verkerbung haben sich allerdings mit dem Aufkommen der „Informationsmaschinen“ vergleichsweise schnell verändert, wie es Deleuze in „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“ andeutet.
Zwischen glatt und gekerbt: Reisen an Ort und Stelle
Ballard spannt mit seiner Sciencefiction Novelle von 1960 ein bipolares Feld der zeitpolitischen Ordnung auf. Nach der Revolution dominiert das Glatte, eine Zone der endlosen Nachmittage. Die Dauer ist Vage, der Moment nicht greifbar. Das mit dem Uhrenverbot erzwungene Recht auf Ineffizienz hat auch Konsequenzen für die Koordinierung des Sozialen. Der auf einmal nahezu uneingeschränkten Verfügung über die eigene Zeit fehlen die Mittel der Gestaltung. Trotz dem zurückgewonnen Potenzial spontan zu handeln ist es eine ereignisarme Zeit des ausgedehnten Erwartens. Vor der Revolution herrscht das Gekerbte, das sich in einem Zentrum synchronisierter Aktivitäten verdichtet. Zeitpläne programmieren das alltägliche Geschehen. Die vordefinierten Konturen von Zeiträumen gliedern sich präzise aneinander und unterbinden jegliche Möglichkeit der spontanen Überlagerung von Abläufen und des unkontrollierten Verlaufs von Tätigkeiten. Dem Entwurf individueller Zeitpraktiken wird der Raum entzogen. Mit der minutiösen Organisation der gefährlichen Vielheiten wächst die Verdrängung des Unerwarteten.
Das Spannungsfeld von Ballards Gegenüberstellung kann allerdings aus zwei Perspektiven betrachtet werden. Auf Ebene der stadtstrategischen Planung entfalten die Gegenpole ein Spektrum, in das sich zeitpolitische Maßnahmen zwischen Liberalisierung und Regulierung einordnen lassen. Aus Sicht der individuellen Zeitpraktiken sind die beiden Pole jedoch nicht nur als einfache Gegensätze zu verstehen. Die eigene Zeitgestaltung ist ein Akt der wechselseitigen Vermischung. Temporalitätswechsel des alltäglichen Handelns entsprechen dem, was Deleuze und Guattari als Reise an Ort und Stelle bezeichnen: Transformationen, Überlagerungen und Konfrontationen zwischen Glattem und Gekerbtem. Das Reisen in beide Richtungen bedeutet, dieser Korrelation aktiv zu begegnen und selbst zu bestimmen, wie wir in der Zeit sind.
Aus der future.lab-Magazin-Augabe #14 Chronopoli(tic)s, 2020
Ein Beitrag von Jerome Becker und Lukas Vejnik
Ballard, J.G., 1960. "Chronopolis". In New Worlds Science Fiction, no. 95, Volume 32.
Deleuze, G., Guattari, F., 1992. "1440 - das Glatte und das Gekerbte". In Tausend Plateaus. Berlin: Merve.
Deleuze, G., 1993. "Postskriptum über die Kontrollgesellschaft". In Unterhandlungen 1972-1990. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Foucault, M., 1977. Überwachen und Strafen: -die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2013, 13.Aufl.
Mumford , L., 1934. Technics and Civilization. -New York: Harcourt, Brace & Company.