Integratives Entwerfen 12 Tales of Europe
Titel
Integrierter Entwurf 12 Tales of Europe: what is left and what is coming
Lehrende
Michael Klein, Michael Obrist, Peter Bauer, Lorenza Baroncelli
Forschungsbereich
Forschungsbereich Wohnbau und Entwerfen (Institut für Institut für Architektur und Entwerfen)
Studienrichtung(en)
066 443 Master Architektur
LVA-Typ
UE
ECTS
15.0
Beschreibung
12 Tales of Europe
what is left – and what is coming
between territorial research and radical prototyping
Um-Bau
Die von verschiedenen Seiten der Architektur ausgerufene Forderung, den Bestand in den Blick zu nehmen, ist mehr, als die neue, alte Aufgabe, um- anstelle neu zu bauen. Sie muss als Teil einer notwendigen größeren Wende verstanden werden, mit dem Ziel, die Praxis von Architektur und Planung neu aufzustellen, das Kommende und Mögliche mit dem, was war und was ist zu verschränken, konkrete Szenarien für den Umgang mit dem Bestand der Geschichte zu zeichnen – im besten Sinne einer Praxis des Sorgetragens. Der Auseinandersetzung damit, was ein solcher sorgender Umbaubedeuten kann, gilt dieses Entwerfen.
Dabei ist Architektur zunächst weder Reparaturwerkzeug noch bloße Dienstleisterin, nicht Problemlösung, sondern die Praxis, Prozesse im Raum zu reflektieren: Sie nimmt eine dezidiert aktive, handelnde Rolle ein; sie ist weder neutral noch passiv, sondern erfordert, Position zu beziehen. The Great Repair bedeutet nicht die Wiederherstellung eines früheren Zustandes, in dem die Welt noch in Ordnung war. Und zugleich muss sich die Disziplin der Architektur – auch wenn wir weiterhin „planen“ werden – vom modernistischen Verständnis von Planung verabschieden und sich an einer Praxis eines offenen Kuratierens orientieren. Um-Bauen meint jeweils etwas anderes, von Situation zu Situation neu zu entscheiden, dabei aber auf die strukturellen und systemischen Besonderheiten einzugehen, meint mit dem Bestand neu bauen, meint reparieren und adaptieren, neu auf- und verteilen, instandsetzen, beanspruchen, aber auch Verlorenes neu wiederzugewinnen und neue Bedeutung zu schaffen.
Topic, Site and Territory
In 12 übergeordneten Bildern, an 15 verschiedene Orten, verteilt über ganz Europa, will dieses Entwerfen dem nachzugehen, was es bedeutet, einem Europa in Veränderung architektonisch zu begegnen – und so zu fragen, was es heißt, heute in Europa zu leben. Die Orte stehen stellvertretend für Herausforderungen gegenwärtiger Veränderung und ihrer räumlichen Effekte: Die Umstrukturierungen dieses Raumes durch Prozesse der euopäischen Integration und Disintegration, die Neuverfassung der legistischen und administrativen Rahmenbedingungen, die Effekte von Klimawandel und die Konsequenzen extraktiver Ökonomien, die Entleerung ganzer Landstriche im Zuge der Verlagerung der Produktion, die Umstrukturierung der Arbeitswelt durch Digitalisierung, die Kommodifizierung des Wohnungswesens, globale Wanderungsbewegungen und nicht zuletzt Kriege. Es sind Räume, deren Rolle sich grundlegend verändert, die in der einen Form und Verwendung zurückgelassen wurden, die in ihrer Rolle verlorengegangen sind und denen neue Bedeutungen zukommen.
In individuellen Projekten sollen diese 15 konkreten Räume in ihrer Entwicklung kartiert, ihre Wechselwirkung mit größeren kontextuellen Veränderungen dargestellt und anaylsiert und die Effekte – die Transformationen wie auch die Dysfunktionalitäten räumlich und visuell sichtbar gemacht werden. Dieser Atlas der Transformation soll zeigen, wie Veränderungen sich an konkreten baulichen Strukturen ausmachen lässt, systemisch aber größer zu fassen ist. Aufbauend auf diese Analyse soll in einem weiteren Schritt architektonische Szenarien erarbeitet werden, wie diese Räume neu gelesen werden können, um ihnen mögliche künftige Verwendungen und Rollen zukommen zu lassen. Als radikale Prototypen sollen sie sich dem Kommenden spekulativ annähern und als Archäologien möglicher Zukünfte Szenarien aufzeigen, um Handlungsoptionen für die Gegenwart auszuloten. Spekulation stellt hier ein Werkzeug zur Erstellung möglicher Zukünfte dar, das erlaubt, die Gegenwart besser verstehen zu können und die Zukunft verhandeln zu können als das was kommen oder das, was nicht kommen soll.[1]
Europas Territorialität
Der Prozess der Europäischen Einigung hat, stellte die Forscher*innengruppe Multiplicity bereits vor mehr als 20 Jahren in Uncertain States of Europe fest, keinesfalls eine Eindeutigkeit geschaffen, was unter dem „Territorium Europas“ zu verstehen sei.[2] In Abhängigkeit davon, ob wirtschaftliche, polizeiliche oder ideologisch-hegemoniale Aspekte im Vordergrund stehen, stelle sich Europa (als politische Projektion) als Archipelago von Protektoraten, als abgeschottete Festung, als politisch-ökonomische oder kulturelle Identität dar – als Mythos einer Einheit. Ergänzt wird dieses Bild um jenes der territorialen Zonen: den Zentren verdichteter Metropolräumen und ihrer Peripherien, in denen sich lokale sozioökonomischen Dynamiken widerspiegeln, die miteinander in Konkurrenz stehen. Diesen beiden Paradigmen entgegengestellt werden könnte eine Perspektive des Wandels, die Strukturen einer longue durée offenlegt, die nur in Prozessen territorialer Veränderung zutage tritt im Sinne eines räumlichen Regelwerks, einer urbanen Syntax: Die Räume Europas waren (historisch gesehen) nicht so sehr gekennzeichnet vom komplett neuen, von tabula rasa, sondern von Ergänzungen und Adaptierungen, von einer Realität des Umbaus. (weiter S 362)
Das Territorium Europas ist daher nicht ein System von Nationalstaaten und auch nicht eine Grenze in deren Innerem etwas fortgeschrieben wird, sondern ein Modus von Veränderung im Raum, eine Kultur des Wandels, der sich im Gebauten niederschlägt: in Strukturen der Offenheit und Neutralität, die sich stets neu codieren und überformen lassen.
Das repräsentative Narrativ der Europäischen Integration begann schon bald zu bröckeln. Der Einheit entgegen wirkte ein Prozess der Disintegration: Dem Europa der zwei Geschwindigkeiten folgte eine Abtrennung des „armen“ Südens vom „reichen“ Norden nach der Finanz-und Wirtschaftskrise von 2007, das Wiedererstehen nationaler/nationalistischer Partikularinteressen in der Fluchtbewegungen von 2015, der COVID Pandemie, die Realitäten von Brexit und Visegrad-Opposition. Während heute kaum noch von einem geeinten Europa die Rede ist, bleibt die Territorialität der Veränderung weiter aufrecht. Diese Qualität einer Kultur der Veränderung wird dann relevant, wenn der Umbau zum notwendigen Programm wird: Denn er bedeutet, dass in den – zumindest historischen – gebauten Strukturen ein impliziertes Wissen von Veränderbarkeit, von Adaptibilität steckt, an das sich anschließen ließe. Man muss diese strukturelle Qualität dafür aber richtig lesen können, analysieren, die Kultur der Veränderung sichtbar machen.
Zukunft ist keine „unerkennbare Leere“,[3] die nicht existiert, sie ist nicht utopisch im Sinne unbegrenzter Möglichkeiten, sondern zukünftige Gegenwart. Wenn unser Entwerfen auf dieses Kommende hin ausgerichtet ist, dann um vom Hier und Jetzt aus auf einen Zustand, der noch nicht ist, zu wirken: eine Projektion von Möglichkeiten, die noch mehr über die Gegenwart, als über die Zukunft sagen. Mit diesem Entwerfen gilt es, in der Analyse der Gegenwart, jene Koordinaten aufzuziehen, die aus der Vergangenheit heraus der Gegenwart mögliche Zukünfte aufzeigen und zugleich die Zukunft muss als verhandelbar darstellen – um zu zeigen, was wir – im Rückgriff auf das Bestehende von ihr haben wollen.
[1] Vgl. dazu: Dunne, Anthony, Raby, Fiona: Speculative Everything. Design, Fiction and Social Dreaming. Cambridge (Massachusetts): MIT Press 2013, 2 ff.
[2] Boeri, Stefano/ Multplicity: USE Uncertain States of Europe – Notes for a Research Program, in: Koolhaas, Boeri, Kwinter, Tazi, Obrist: Mutations, Bordeaux, Actar, 2000, S. 356-413
[3] Paglen, Trevor: „Geographien der Zeit (Die letzten Bilder)“, in: Realismus – Materialismus – Kunst, Avanessian, Cox, Jaskey Malik (Hg.): Spekulationen.,Berlin: Merve 2015, 225.
Bild: Ciudad Valdeluz: On the Ruins of Spain’s Housing Bubble.