Innovator in Residence Steven März im Gespräch

Von 27. April bis 11. Mai 2025 war Steven März vom Wuppertal Institut als Gastforscher – „Innovator in Residence“ – bei der future.lab Innovationswerkstatt zu Besuch. Im Rahmen eines kurzen Interviews haben wir über seine Eindrücke und Erfahrungen in Wien gesprochen.

Bitte stelle dich und das Wuppertal Institut kurz vor!

Mein Name ist Steven März, ich bin Senior Researcher am Wuppertal Institut. Das Wuppertal Institut ist ein Nachhaltigkeits-Thinktank mit rund 330 Mitarbeiter*innen und wir beschäftigen uns mit ganz unterschiedlichen Fragen der nachhaltigen Entwicklung. Das geht von der Kreislaufwirtschaft über nachhaltiges Produzieren und Konsumieren bis hin zum Energiesystem der Zukunft oder eben auch – und das ist meine Abteilung – um Governance-Strukturen, also um die Frage wie man politische Rahmenbedingungen so setzen kann, dass innovative Technologien, Geschäftsfelder oder auch soziale Praktiken in die Umsetzung kommen. Ich arbeite im Forschungsbereich Stadtwandel und beschäftigte mich mit ganz unterschiedlichen Fragen der nachhaltigen Stadt- und Quartiersentwicklung, vor allem im Bereich nachhaltiges Bauen und Wohnen sowie klimaangepasste Straßen- und Stadträume.

Ich habe 2010 das Geografiestudium mit den Nebenfächern VWL und Politikwissenschaften abgeschlossen. Meine Diplomarbeit habe ich direkt am Wuppertal Institut geschrieben, bin also schon seit über 15 Jahren dort. 2015-2019 hatte ich die Möglichkeit, an der philosophischen Fakultät Duisburg-Essen zum Thema energetische Gebäudesanierung von privaten Vermieter*innen zu promovieren. Titel meiner Arbeit war "Warum sollte ich meine Mietimmobilie energetisch sanieren?".

Was war deine Motivation nach Wien zu kommen und was interessiert dich besonders an der Stadt?

Die Idee nach Wien zu kommen ist vor 1,5 Jahren entstanden, weil ich in verschiedenen Projekten immer wieder über gute Beispiele aus Wien gestolpert bin – mal ist es der Öffentliche Nahverkehr (ÖPNV), mal das Thema Smart City oder der soziale Wohnungsbau. Dann hatte ich ein Projekt zu lebenswerten Straßenräumen. Das heißt ich hab nach Wien geschaut, wenn es um "Coole Straßen" oder "Raus aus dem Asphalt" ging. Das hat mir den Impuls gegeben besser verstehen zu wollen, warum Wien in unterschiedlichen Bereichen so viele gute Bespiele hat. Und ich wollte auch verstehen, warum Wien in globalen Rankings immer als so lebenswert wahrgenommen wird.

Was sind deine bisherigen Eindrücke? Was ist dir besonders positiv oder negativ aufgefallen?

Also ich kann durchaus verstehen, warum Wien als lebenswert wahrgenommen wird. Ich habe das auch so empfunden. In der ersten Woche noch ein bisschen mehr – da war das Wetter besser. Aber selbst bei 13 Grad und Regen finde ich es nach wie vor eine sehr attraktive Stadt.

Eine kurze Anekdote dazu: Ich bin Sonntagabend angekommen und habe eine Unterkunft an der westlichen Stadtgrenze in Hernals und war erstmal sehr überrascht, dass ich mit dem ÖPNV am Sonntagabend im 10-Minuten-Takt bis zur Stadtgrenze komme. Noch überraschter war ich, als in der Bahn dann so eine Durchsage kam "Bitte seien Sie achtsam! Andere brauchen Ihren Sitzplatz vielleicht notwendiger!".

Und das zog sich so ein bisschen durch. Ich habe den Eindruck, dass Wien eine Stadt ist, die sich um die Menschen in der Stadt kümmert. Das klingt banal, weil das für jede Stadt gelten müsste, es fühlt sich hier aber nach einem stark verankerten Handlungs- und Planungsparadigma an. Das zieht sich durch die Infrastruktur vom ÖPNV, vom Radverkehr, über das Wohnen bis hin zur Qualität der öffentlichen Plätze. Ich nehme immer wieder wahr, dass es darum geht, was der Mensch, der hier lebt, braucht. Und das macht es in der Konsequenz sehr lebenswert. Ich hab auch das Grün zu schätzen gelernt – von der Donauinsel bis zum Wiener Wald.

Und ich fand es von der Art der Menschen, ziemlich gesellig. Ich bin auch nach zwei Wochen Radfahren an keiner Stelle angehupt worden. Ich nehmen die Atmosphäre im Supermarkt entspannt wahr, auch wenn man mal länger in der Schlange steht, im Café herrscht eine entspannte Grundatmosphäre. In Deutschland geht es an manchen Stellen hektischer mit ein bisschen mehr Ellbogenmentalität zu. Ansonsten war so meine Wahrnehmung – die ist sicher nicht repräsentativ – dass sich sehr viel im öffentlichen Raum abspielt, wie Spielplätze oder nicht-kommerzielle Angebote von Konzerten oder Märkten. Und das macht die Stadt lebendig. Ich weiß gar nicht, ob mir etwas Negatives aufgefallen ist.

Was hat dich überrascht?

Überrascht hat mich die gute Radverkehrsinfrastruktur, die aber in meiner Wahrnehmung im Vergleich zu anderen Städten relativ wenig genutzt wird. Wenn ich dann Leute fragen, woran das liegt, dann kriegt man als Antwort "Naja, weil der ÖPNV so gut ist".

Die größte Überraschung war euer Mietrecht, weil das sehr anders als in Deutschland organisiert ist. Wenn man von außen auf Wien schaut, weiß man, dass es diesen geförderten Wohnbau gibt mit Gemeindebau und geförderten Mietwohnungen und dadurch ein günstiges Mietniveau ist. Aber viel mehr weiß man von außen nicht.

Wenn man sich dann näher damit beschäftigt, was ich durch Interviews mit unterschiedlichen Stakeholder*innen versucht habe, stellt man die ein oder andere Schattenseite fest. In Deutschland ist es so, dass wenn es um energetische Sanierung und Wärmewende geht, kann ich als Vermieter*in relativ einfach Kosten auf die Mieter*innen umlegen und hab durchaus Investitionsanreize für eine notwendige Transformation des Gebäudebestandes. Und das hat man in Wien als Vermieter*in sehr wenig. Das ist eine Herausforderung. Aus sozialer Perspektive gut, aber aus ökologischer Perspektive ist dieser Rahmen durchaus herausfordernd.

Grundsätzlich wird Daseinsvorsorge in Wien sehr großgeschrieben und ist als öffentliche Aufgabe gesetzt. Das hinterfragt niemand von den öffentlichen Einrichtungen und wird umgekehrt von der Bevölkerung eingefordert. Das merkt man beim Wohnen am deutlichsten, aber auch beim Anspruch der Stadt, diese vor dem Hintergrund des Klimawandels umzubauen, damit es den Menschen gut geht, z.B. hinsichtlich urbaner Hitze. Das ist auch eine Form von Daseinsvorsorge, die hier sehr konsequent in tatsächlichen Stadtumbau übersetzt wird.

Welche sozialen Innovationen in der Stadtentwicklung hast du im Zuge deiner Besichtigungen, Gespräche und Recherchen entdeckt? Und was verstehst du unter sozialer Innovation?

Wir haben im Rahmen des Projekts SInBa – Soziale Innovationen in Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung den Begriff definiert und haben da gesagt, es geht um anders denken, anders handeln, anders organisieren. Es geht um die Neukonfiguration sozialer Praktiken. In Vorträgen formulieren wir das so: Die technische Innovation ist das Zahnrad und die soziale Innovation ist die Art und Weise, wie die Zahnräder ineinandergreifen, ist die Schmiere damit Zahnräder funktionieren. Wenn ich mir so unsere Projekte ansehe, haben soziale Innovationen eigentlich zwei Funktionen: Sie sollen die Diffusion von technischen Innovationen beschleunigen bzw. erstmal ermöglichen und dann gibt es soziale Innovationen, die eine andere soziale Praktik etablieren. Ein gemeinschaftliches Wohnprojekt ist so ein Beispiel. Hier spielen Technologien nur eine sehr untergeordnete Rolle. Es geht vielmehr um eine Neuorganisation des Wohnens.

In meinen Interviews ist deutlich geworden, dass es die Stadt Wien schafft, sich so zu organisieren, dass sich die strategische Ebene – also der Wien Plan – bis zu konkreten Projekten durchzieht und damit kongruent ist. In einem Interview hat das jemand von der Stadt Wien so erklärt: "Unter dem Strategieplan organisieren wir uns als Stadtverwaltung in Programmen, wie Raus aus Gas, Raus aus dem Asphalt, WieNeu+. Darunter haben wir dann Projekte, wie 100 Projekte Raus aus Gas oder die Coolen Straßen etc. Und dann haben wir auf der operativen Ebene die tatsächliche Umsetzung, den Straßenumbau oder die Gebäudesanierung." Alle Ebenen richten sich dabei an den strategischen Zielen wie etwa die Sicherung der sozialen Durchmischung, einem hohen Grünflächenanteil oder der Reduzierung der Treibhausgase aus.

In deutschen Kommunen bricht diese Logik an irgendeiner Stelle. Meistens am Übergang vom Programm zum Projekt, weil dann die Finanzierung fehlt. Hier in Wien macht man das sehr konsistent, dass man sich auf ein Ziel geeinigt hat, dieses operationalisiert, abarbeitet und neue Strukturen schafft, wie etwa den Klimabeirat oder das Klimateam etc. Und was ich durch die Interviews auch erfahren habe ist, dass es von den Projekten auch wieder zur Strategieebene zurückgeht und es eine Evaluation der Projekte gibt, um noch besser zu werden. Das ist auf der Verwaltungsebene sehr spannend. Ich finde es auch spannend, dass man das Klimathema an so vielen Stellen verankert hat und es dadurch geschafft hat, die Leute mitzunehmen. Es gibt bei vielen Projekten eine Beteiligung, es gibt Gebietsbetreuungen, Formate wie die Grätzlmarie im Rahmen von WieNeu+. Die haben alle einen Programmzuschnitt, bei dem es um Klimaschutz und Nachhaltigkeit geht, aber gleichzeitig sind die offen für die Bedürfnisse der Menschen. Das finde ich sehr cool. Und diese Programme sind auch mit Budget hinterlegt. Im Wuppertal gibt es mit dem sogenannten Bürger*innenbudget ein Format, was sehr vergleichbar mit den Klimateams in Wien ist. Es hat aber überhaupt keinen thematischen Fokus und das Budget ist deutlich kleiner.

Beim Wohnen ist es beispielsweise Wiener Wohnen, die ja nicht nur ein Wohnungsunternehmen sind, sondern auch Quartiers- und Nachbarschaftsentwicklung machen. In diesem Jahr werden 1.000 Wohnungen für Studierende angeboten. Das finde ich sehr charmant, weil man damit nicht nur Wohnraum für junge Menschen anbietet, sondern aktiv die Sozialstruktur von Hausgemeinschaften, Baublöcken, vielleicht sogar Quartieren steuert.

Und in Wien passieren in der Stadtentwicklung sowohl Top-Down als auch Bottom-Up-Prozesse. Vieles ist über Programme und Institutionen top-down organisiert. Dann gibt es von zentralen Akteur*innen initiiert so etwas wie die Grätzlmarie oder auch Bottom-up Initiativen. Es gibt aber auch solche Projekte, wie die HausWirtschaft, die aus privater, intrinsischer Motivation entstehen und dann aber ins Quartier hineinwirken. Es gibt in  Wien ein gutes Nebeneinander – einerseits machen die Stadtverwaltung und die Unternehmen der Stadt Wien sehr viel, andererseits gibt es den zivilgesellschaftlichen Strang.

Was hast du vom future.lab mitgenommen? Was hat dich inspiriert?

Ich finde es erstmal mutig, dass man als Forschungseinrichtung an der TU Wien auch aus der Uni rausgeht und man andere Räumlichkeiten anmietet, um auch mehr vor Ort zu sein. Mein Eindruck ist, dass das nicht so klassische Forschung ist, sondern auch transformative Forschung, wo man wirklich an der Werkbank mitschrauben möchte und gleichzeitig auch von außen draufschaut. Und ich habe das Gefühl, dass euer Anspruch ist, auch selbst wirksam zu sein und nicht nur zu beobachten.

Was kannst du aus diesen Erfahrungen für deine Arbeit lernen?

Für mich war es ein schönes Ausbrechen aus dem Arbeitsalltag. Es war auch so ein Motivationsboost, da man im Alltag oft von Termin zu Termin oder von einem zum anderen To-do springt. Nach Wien zu kommen war eine Möglichkeit über den Tellerrand zu schauen, kurz innezuhalten, auch zu sehen – und das hat mir durchaus Mut gemacht – dass Städte in der Lage sind, sich zu verändern. In Wien gibt es die Sondersituation, dass die Kommune (Gemeinde) auch das Land ist. Die Bundesregelungen sind sehr ähnlich zu Deutschland - auch nicht wahnsinnig innovativ. Und trotzdem schafft man es als Stadt da ein Stück weit auszubrechen, anders zu sein, eigene Akzente zu setzen und Nachhaltigkeitsthemen schneller als auf Bundesebene voranzubringen. Auch in Deutschland gibt es einige Städte, wie Aachen, Münster, Bonn oder Freiburg, die bei bestimmten Themen der nachhaltigen Stadtentwicklung weit sind. In Wien hatte ich das Gefühl, dass das nochmal eine andere Entwicklungsstufe ist. Während viele deutsche Städte auf einer Fünfer-Skala noch bei Level 1, bestenfalls 2 sind, seid ihr in Wien schon bei Level 3 bis 4. Und das macht durchaus Mut und kann Projekte in Deutschland inspirieren!

8. Mai 2025

Wuppertal Institut