Symposium 2022: Soziale Innovationen weiter gedacht

18.10.2022 im Rahmen der IBA_Wien

Die IBA_Wien hat die Entwicklung ausgewählter Wiener Quartiere über mehrere Jahre hinweg begleitet und unterstützt. Daraus lässt sich nicht nur für andere Stadtteile, sondern für viele weitere Bereiche nachhaltiger Stadtentwicklung lernen – aus den Erfolgen wie auch aus den Herausforderungen. Denn viele Themen werden auf dieser Maßstabsebene kooperativ bearbeitet und auch neu gelebt.

Die dreiteilige Veranstaltung “Soziale Innovationen weiter gedacht” knüpfte an diesen Schwerpunkt der IBA_Wien an. Im Rahmen einer Exkursion und eines Workshops sind wir den oft unsichtbaren, aber so zentralen Lern- und Innovationsprozessen anhand der Entwicklung zweier IBA-Quartiere nachgegangen. Am Abend hörten wir zwei hochkarätige Keynotes und diskutierten – ausgehend von sieben Jahren IBA_Wien – die Bedeutung von Lernprozessen zur Nachhaltigkeitstransformation unserer Städte.

Lernen am IBA-Quartier © Andreas Bernögger, TU Wien

 

Lern- und Innovationsprozesse in den IBA-Quartieren Am Seebogen und Neu Leopoldau

9.00-13.00 Exkursion zu den IBA-Quartieren Am Seebogen und Neu Leopoldau

14.30-17.30 Workshop zu Lern- und Innovationsprozessen anhand dieser Quartiere (IBA-Zentrale, Nordwestbahnstraße 16)

Im Rahmen der Exkursion und des anschließenden Workshops wurden die beiden IBA-Quartiere Am Seebogen und Neu Leopoldau hinsichtlich ihrer Lern- und Innovationsprozesse reflektiert. Hier ein kurzer Einblick in die wichtigsten Erkenntnisse: 


Das Quartier am Seebogen bildet den dritten Bauabschnitt der Seestadt aspern und schafft Wohnraum für rund 2.500 Bewohner*innen. Eine Besonderheit des Quartiers liegt in dem angestrebten Nutzungsmix von Wohnen und Arbeiten: 20 Prozent der Flächen sind Nicht-Wohnnutzungen vorbehalten. Die dabei entstehenden Herausforderungen in der Umsetzung waren eines der zentralen Themen während der Exkursion, geleitet von Marvin Mitterwallner (Besucher*innenservice der Wien 3420 AG). Anhand des Gewerbehofs, betrieben von der Wirtschaftsagentur Wien und der 3420 AG, wurde auf das z.T. herausfordernde Ziel verwiesen, kleinteiliges Gewerbe in der Seestadt anzusiedeln. Um die Seestadt als lebendiges Zentrum zu etablieren, ist neben der Ansiedlung von kleinteiligem Gewerbe auch die Schaffung von sozialer Infrastruktur wesentlich – auch um den Bedarf der umliegenden Stadtteile auszugleichen. Im Quartier am Seebogen wurde bereits in einer frühen Phase der Besiedelung ein Bildungscampus (der zweite in der Seestadt) errichtet, der vor allem durch sein innovatives Energiesystem auf Interesse in der Planungswelt stößt. Am Beispiel der Bücherei wurde allerdings auch die „Kehrseite“ der Schaffung eines neuen Zentrums deutlich: Obwohl die Ansiedlung der Bücherei einen großen Mehrwert für das Quartier und die gesamte Seestadt bringt, mussten dafür andere Standorte in der Umgebung schließen. Die Workshop-Teilnehmer*innen betonten anhand dieses Beispiels die Notwendigkeit einer Reflexion über „Gewinner und Verlierer“ und die Frage, wie ein Ausgleich ermöglicht werden kann.  


Eine weitere Besonderheit, die im Rahmen der Exkursion und des Workshops diskutiert wurde, ist das Konzept der bauplatzübergreifenden Freiräume, die auch im südlichen Teil der Seestadt bereits umgesetzt wurden. Marvin Mitterwallner betonte den Mehrwert, der dadurch nicht nur für die Bewohner*innen entsteht, sondern auch für die Bauträger, für die sich – auf einen längeren Zeitraum berechnet – ökonomische Vorteile ergeben können. Ein weiteres Highlight des Quartiers ist das durchgehende Freiraum-Band entlang der U-Bahn-Trasse, das nicht nur die ansonsten oftmals als „Restraum“ behandelten Flächen effektiv nutzt, sondern durch die einheitliche Gestaltung auch identitätsstiftend für das Quartier ist. 


Die Exkursion durch das Quartier Neu Leopoldau in Floridsdorf wurde von Christian Peer geleitet, der im Rahmen der Begleitforschung „Werkstatt Neu Leopoldau“ einen tiefen Einblick in die Entwicklungen des Quartiers gewinnen konnte. Gleich zu Beginn fielen den Teilnehmenden die charakteristischen Bestandsgebäude auf, die durch ihre gelbe Farbe aus der bereits errichteten Wohnbebauung herausstechen. Der Umgang mit den Bestandsgebäuden wurde allerdings auch kritisch diskutiert, da diese zum Großteil noch leerstehen und es kein koordiniertes Verwertungs- und Nutzungskonzept zu geben scheint. Auch der Bildungscampus ist noch nicht eröffnet, obwohl der Besiedlungsprozess bereits weit fortgeschritten ist. Somit fehlen derzeit noch wichtige Nicht-Wohnnutzungen, die für ein lebendiges Quartier mit hoher Lebensqualität ausschlaggebend sind. Die fehlende Nutzungsmischung wird auch als Hindernis gesehen, das Ziel eines autofreien Quartiers mit kurzen Wegen zu erreichen. Neben den denkmalgeschützten Gebäuden macht auch der große Baumbestand das Quartier zu etwas Besonderem und bietet von Anfang an Freiraumqualitäten, die in anderen neuen Stadtteilen oftmals vermisst werden. 


Auch anhand des Quartiers Neu Leopoldau wurde über Potenziale und Herausforderungen bauplatzübergreifender Konzepte diskutiert. In den Erdgeschoßzonen der Gebäude wurden zwar vielfältige Gemeinschaftsräume und Aneignungsräume („Pop-Up Räume“) errichtet, allerdings ist deren Nutzung kein Selbstläufer, sondern bedarf entsprechender  Qualitäten und Rahmenbedingungen. Es braucht architektonisch hochwertige Räume inklusive technischer Funktionalitäten, die das Teilen der Räume ermöglichen und erleichtern (z.B. elektonisches  Schließsytem), aber v.a. auch koordinierende Strukturen und "Kümmerer", um die Vielfalt und Kleintiligkeit im Erdgeschoß zu ermöglichen – und dies auch nach Abschluss des Besiedelungsprozesses. Das GB*Stadtteilmanagement hat hier bereits wichtige Arbeit geleistet, um Vielfalt und Kleinteiligkeit im Erdgeschoß zu ermöglichen und die Nachbarschaft zu stärken. 


Lernprozesse als Beitrag zur Nachhaltigkeitstransformation

18.00-20.00 Symposium mit zwei Keynotes und Podiumsdiskussion
Das Symposium wurde aufgezeichnet und ist online verfügbar:

Soziale Innovationen im urbanen Raum: Möglichkeiten und Stolpersteine
(Prof. Dr. Ingrid Breckner, HCU Hamburg und Beirat der IBA_Wien) 

Bezugnehmend auf die IBA_Wien machte Ingrid Breckner deutlich: Mehrwerte werden oft erst später sichtbar und entstehen im Prozess, und somit sind dauerhafte Lern- und Reflexionsprozesse zentral. Nur eine langfristig ausgerichtete Nachbereitung der IBA_Wien könne jene Hintergründe sichtbar machen, die zur Verwirklichung bzw. zum Scheitern gewisser innovativer Ideen im Laufe des Prozesses geführt haben, und zeigen, inwiefern diese auch über die Wiener Stadtentwicklung hinaus eine transformative Wirkung entfaltet haben. Ingrid Breckner plädierte außerdem für eine stärkere Orientierung am städtischen Wohnungsbestand statt an Neubauaktivitäten. Neben vereinzelten Akupunkturen – die im Rahmen der IBA_Wien vor allem im Neubau entstanden sind – brauche es radikale Verbesserungen im bereits weltweit bewunderten Wiener sozialen Wohnbau. 

Experimente im Reallabor - gesellschaftliche Veränderungen ausprobieren und anstoßen
(Dr. Volker Stelzer, Karlsruher Transformationszentrum für Nachhaltigkeit und Kulturwandel)

Volker Stelzer machte deutlich, dass soziale Innovationen nicht im luftleeren Raum stehen, sondern immer das Ziel haben, eine Transformation zu erzeugen. Bezugnehmend auf Sascha Mamczak stellt er die Frage „Wir alle wissen, dass die Zukunft anders sein muss als die Gegenwart, wenn es eine gute Zukunft werden soll. Aber wie anders?“ Wie kommen wir vom Wissen zum Wandel? Anhand konkreter Beispiele aus der Reallabor-Forschung verweist Volker Stelzer auf das große Potenzial von Experimenten, die zu veränderten Alltagsroutinen führen können, und somit einen Beitrag zur Transformation leisten. Es bräuchte neue co-produktive Formate und strategische Lernräume, in denen Nutzer*innen als Wissende und Vermittelnde agieren und Wissenschaftler*innen neue Perspektiven einnehmen.

 

Podiumsdiskussion

In der anschließenden Podiumsdiskussion mit den beiden Keynote-Speaker*innen, sowie mit Tanja Wehsely (Volkshilfe Wien), Mathias Mitteregger (AustriaTech), Amila Širbegović (IBA_Wien) und Christian Peer (future.lab TU Wien) diskutierten wir über den Beitrag von Lernprozessen zur Nachhaltigkeitstransformation unserer Städte. Moderiert wurde die Diskussion von Andreas Bernögger (future.lab TU Wien). 

Bereits zu Beginn des Gesprächs wurde die Herausforderung adressiert, dass der Innovationsbegriff auf unterschiedliche Interpretationen und Verständnisse trifft. Der Begriff müsse, v.a. in Bezug auf dessen Wertigkeit, stärker hinterfragt werden. Amila Širbegović beurteilt die Projekte der IBA_Wien nicht danach, ob sie “innovativ” sind, sondern ob Lernprozesse für die Nachbarschaft und gesellschaftliche Mehrwerte entstehen, die sich vermehren können. Laut Christian Peer sollte die Verständigung über transformative Entwicklung nicht am Innovationsbegriff scheitern, der von manchen sehr spezifisch verwendet und von anderen wiederum schlichtweg abgelehnt wird.
Stattdessen ließe sich in einfacheren Worten etwa von "Wandel" oder "Veränderung" sprechen, wobei auch hier eine Basis der  Verständigung geschaffen werden muss. Mathias Mitteregger sieht eine wesentliche Herausforderung im Innovationssystem. Dieses sei nicht offen und inklusiv genug, da es nur eine gewisse, homogene Gruppe begünstigt und Menschen, die nicht am wissenschaftlichen Diskurs teilnehmen (können) von Fördergeldern ausschließe. Nicht nur das Fördersystem, sondern auch die Wissenschaftler*innen selbst müssen sich transformieren und erkennen, dass das Reproduzieren von vertrauten Routinen nicht der richtige Weg sein kann. Außerdem müssten die auf technische Erneuerung ausgelegten Förderungen aufgeweitet werden – denn Technologien nutzen uns nicht viel, wenn sie nicht in der Gesellschaft ankommen, genutzt, gekauft oder angewandt werden.
In Zusammenhang damit seien für Wissenschaftler*innen in der “transformativen Forschung” laut Volker Stelzer vor allem zwei Eigenschaften zentral: Offenheit und Normorientierung. Einerseits muss man sich als Wissenschaftler*in selbst zurücknehmen, Wertschätzung gegenüber anderen aufbringen und aufmerksam zuhören, um die Lösung gemeinsam zu entwickeln. Nur so kann das nötige Vertrauen aufgebaut werden. Andererseits agieren Wissenschaftler*innen nie wertfrei und neutral, sondern orientieren sich an den Zielen der Nachhaltigkeit. Auch wenn “wir wissen, wo die Reise ungefähr hingehen muss” (Mathias Mitteregger), müsse die normative Ebene und die Lösungen in der Gesellschaft verhandelt werden. 


Die Podiumsteilnemer*innen waren sich einig: Wir müssen mehr Menschen in den Innovationsprozess einbeziehen, um tatsächlich eine kritische Masse zu erreichen, die bereit ist, gemeinsam an den Lösungen zu arbeiten. Dabei stellt sich die zentrale Frage, wie wir unterschiedliche Zielgruppen mit dem Thema Nachhaltigkeit und Transformation erreichen. Die Kommunikation in einfacherer Sprache und das Entwickeln neuer Vermittlungsformate werden als zwei wesentliche Hebel genannt. Um Menschen zu ermächtigen, ihre eigenen Ideen umzusetzen und somit Teil der Transformation sein zu lassen, müssen Wissenschaftler*innen mit der Frage auf die Menschen zuzugehen, was sie selbst gern in ihrem Leben verändern würden und an welchen Themen sie interessiert sind. Um deren Ideen schließlich auch begleiten und unterstützen zu können, müssen entsprechende Räume und Ressourcen geschaffen werden. Soziale Träger können einen wichtigen Beitrag dazu leisten, an Zielgruppen heranzutreten. Denn Tanja Wehsely betont, dass die Volkshilfe Wien bereits wertvolle Erfahrungen darin hat, Menschen zu finden, die eine Idee haben und diese mit möglichst unbürokratischen Möglichkeiten auszustatten. Solche co-produktiven Prozesse, in denen gemeinsam an Lösungen gearbeitet wird, müssen laut Ingrid Breckner Ausgangspunkt von sozialen Innovationen sein.

Da Innovationen immer mit Veränderungen einhergehen, sind Innovationsprozesse oftmals mit Skepsis und auch Ängsten verbunden. So können etwa Erneuerungen im Wiener Wohnbausystem, das für viele (aber nicht alle) gut funktioniert und aus der Sicht vieler Verantwortlicher nicht verändert werden sollte, häufig auf Misstrauen oder Widerstand stoßen. Amila Širbegović betont, dass soziale Innovationsprozesse im Rahmen der IBA_Wien auch in der (Weiter-)Entwicklung von niederschwelligen Vermittlungsformaten angestoßen wurden. So wurden bspw. im Rahmen von Projekten an Schulen Formate erprobt, die dazu führten, dass Bewohner*innen über ihre Rechte, Ansprüche und Zugänge zum sozialen Wohnen (besser) Bescheid wissen.

Was sich die Innovationswerkstatt abschließend aus dem Austausch für ihre eigene Arbeit mitnimmt: Einerseits benötigt es mutige Pionier*innen, die Lust auf Experimentieren und das gemeinsame Lernen haben, andererseits ist das Erreichen einer kritischen Masse wesentlich für den Erfolg der transformativen Agenda. 


Weitere Impressionen vom Tag:

Fotos: © Mara Haas, TU Wien